Viele Menschen kennen das Gefühl: Die Kindheit zog sich endlos, doch ab einem gewissen Alter scheinen Jahre im Flug zu vergehen. Ein internationales Forschungsteam hat nun eine spannende Spur gefunden – mithilfe einer alten Folge von „Alfred Hitchcock präsentiert“ und detaillierten Hirnscans.
Die in Communications Biology veröffentlichte Studie legt nahe: Mit zunehmendem Alter registriert unser Gehirn weniger einzelne „Ereignisse“ pro Zeiteinheit. Dadurch kann der Eindruck entstehen, die Zeit rase immer schneller vorbei.
Das Experiment: 577 Menschen, ein Hitchcock-Clip, viele Hirnscans
Grundlage der Arbeit sind Daten des Cambridge Centre for Ageing and Neuroscience (Cam-CAN), eines Langzeitprojekts zur Erforschung des alternden Gehirns. Insgesamt 577 Probandinnen und Probanden im Alter zwischen 18 und 88 Jahren schauten im Kernspintomographen einen achtminütigen Ausschnitt der Serie „Alfred Hitchcock Presents“ – konkret die Episode „Bang! You’re Dead“.
Während des Clips zeichneten funktionelle MRT-Scans (fMRT) fortlaufend auf, wie sich die Aktivität im Gehirn veränderte. Der gewählte Ausschnitt ist nicht zufällig: Frühere Untersuchungen hatten gezeigt, dass gerade diese Szene bei sehr unterschiedlichen Zuschauern besonders synchrone Aktivitätsmuster hervorruft – ideal, um zu analysieren, wie das Gehirn fortlaufende Ereignisse segmentiert.
GSBS: Wie ein Algorithmus „Kapitelsprünge“ im Gehirn erkennt
Für die eigentliche Auswertung nutzten die Forschenden einen Algorithmus namens Greedy State Boundary Search (GSBS).
Vereinfacht funktioniert dieser so:
- Er durchsucht die fMRT-Daten nach stabilen Aktivitätsmustern – Phasen, in denen die Aktivität im Gehirn relativ konstant bleibt.
- Er markiert die Übergänge zwischen diesen Zuständen, also die Momente, in denen das Gehirn in ein neues Aktivitätsmuster wechselt.
- Er tut das „gierig“ (greedy), das heißt Moment für Moment, ohne die Dramaturgie der gesamten Szene zu berücksichtigen.
Diese stabilen Aktivitätsphasen lassen sich als neuronale Zustände verstehen. Die Grenzen dazwischen entsprechen in vielen Modellen den Punkten, an denen das Gehirn ein Ereignis als abgeschlossen und ein neues als beginnend einordnet.
Was sich mit dem Alter verändert: Längere Zustände, weniger Wechsel
Das zentrale Ergebnis:
- Bei jüngeren Teilnehmenden wechselte das Gehirn während des Clips häufiger zwischen unterschiedlichen Aktivitätszuständen.
- Bei älteren Personen blieben diese Zustände länger stabil; die Zahl der Übergänge im gleichen Acht-Minuten-Zeitraum war geringer.
Diese Tendenz zeigte sich über das gesamte Altersspektrum von 18 bis 88 Jahren. Mit anderen Worten: Im selben objektiven Zeitraum scheinen jüngere Gehirne mehr „neuronale Ereignisse“ zu registrieren, während ältere Gehirne dieselbe Szene in größeren, zusammengefassten Blöcken verarbeiten.
Die Forschenden schlagen deshalb vor, dass längere, seltener wechselnde Zustände im Gehirn dazu beitragen könnten, dass Ältere subjektiv das Gefühl haben, Zeit vergehe schneller.
Aristoteles lässt grüßen: Mehr Ereignisse = mehr Zeitgefühl
Die neuen Befunde passen erstaunlich gut zu einer alten philosophischen Idee, die bereits Aristoteles formuliert hatte: Zeit wird nicht nur als abstrakte Größe wahrgenommen, sondern über die Anzahl der Ereignisse, die in einem Zeitraum passieren.
- Passiert viel Neues – etwa auf einer Reise oder in einer stressigen Woche –, wirkt die Zeit im Rückblick „gedehnt“.
- Besteht ein Tag aus vielen Routinen, an die sich das Gehirn kaum erinnert, schrumpft er im Rückblick oft zu einem diffusen Eindruck zusammen.
Übertragen auf die Studie heißt das: Wenn das Gehirn mit zunehmendem Alter weniger „Ereignisgrenzen“ setzt, könnte ein Monat oder ein Jahr rückblickend wie ein vergleichsweise glatter, kurzer Block wirken – obwohl er objektiv genauso lang war wie früher.
Neuronale Dedifferenzierung: Wenn das Gehirn weniger wählerisch wird
Die Forschenden führen die selteneren Zustandswechsel auf ein Phänomen zurück, das als altersbedingte neuronale Dedifferenzierung bezeichnet wird.
Dabei gilt:
- Im jungen Gehirn reagieren bestimmte Areale sehr spezifisch – etwa neuronale Gruppen im Gesichtserkennungsbereich, die stark auf Gesichter, aber kaum auf andere Objekte anspringen.
- Mit zunehmendem Alter verschwimmt diese Spezifität: dieselben neuronalen Gruppen feuern häufiger auch bei Reizen, die nicht direkt zu ihrer „Lieblingskategorie“ gehören.
Auf höherer Ebene bedeutet das:
- Grenzen zwischen unterschiedlichen Kategorien und Ereignissen werden in der Verarbeitung unschärfer.
- Das Gehirn könnte weniger präzise markieren, wann eine Szene endet und die nächste beginnt.
Diese „Verwischung“ von Zuständigkeiten im Kortex könnte ein Grund dafür sein, dass ältere Menschen weniger deutlich zwischen vielen einzelnen Momenten unterscheiden – und somit weniger „Ticks“ im inneren Zeitprotokoll sammeln.
Zwei Zeitskalen: Uhrzeit vs. innere Logarithmen
Die Studie betont zugleich, dass neuronale Ereignisgrenzen nur eine Seite der Medaille sind. Die Forschenden verweisen auf ein zweites wichtiges Konzept: Jeder Mensch lebt mit zwei Zeitskalen.
- Äußere, lineare Zeit:
- Gesellschaftlich definierte Einheiten: Sekunden, Minuten, Stunden, Jahre.
- Die Uhr tickt für alle im gleichen Tempo.
- Innere, subjektive Zeit:
Dadurch gilt:
- Derselbe objektive Zeitraum nimmt im Verhältnis zur eigenen Lebenszeit mit zunehmendem Alter einen immer kleineren Platz ein.
- Selbst wenn das Gehirn gleich viele Ereignisse pro Jahr registrieren würde, sähe dieser Abschnitt im „inneren Lebensbalken“ immer schmaler aus.
Das subjektive Gefühl, dass ein Jahr „immer schneller“ vergeht, ist also eine Mischung aus neuraler Verarbeitung und relativer Lebensperspektive.
Grenzen der Studie: Was sie nicht erklärt
So aufschlussreich die Ergebnisse sind, einige Punkte bleiben offen:
- Die Messungen basieren auf einem achtminütigen Filmclip im Labor – nicht auf Alltagserfahrungen über Monate oder Jahre.
- Die Studie zeigt Korrelationen zwischen Alter, Zustandsdauer und Hirnaktivität, aber sie beweist nicht kausal, dass genau diese Veränderungen allein unser gesamtes Zeitempfinden bestimmen.
- Andere Faktoren wie Emotionen, Stress, Gesundheit, Routinen oder Lebensumstände spielen nach wie vor eine große Rolle für das persönliche Zeitgefühl.
Trotzdem liefert die Arbeit einen wertvollen Baustein: Sie verbindet sehr konkrete neuronale Messungen mit alltäglichen Erfahrungen und schafft damit eine Brücke zwischen Hirnforschung und Lebensgefühl.
Was wir daraus mitnehmen können: Zeit „anreichern“ statt festhalten
Interessant ist, dass die Forschenden darauf hinweisen, ältere Menschen könnten ihr subjektives Zeitempfinden trotz der beschriebenen Trends aktiv beeinflussen.
- Sinnvolle soziale Kontakte, Gespräche und geteilte Erlebnisse erzeugen mehr erinnerungswürdige „Ereignisse“.
- Neue Erfahrungen – etwa Reisen, Lernen, Hobbys – durchbrechen Routinen und füllen die innere Zeitleiste dichter.
- Aufmerksamkeit und Präsenz im Moment sorgen dafür, dass einzelne Abschnitte bewusster und damit oft länger erlebt werden.
Mit anderen Worten: Auch wenn das Gehirn mit dem Alter dazu neigt, die Welt in gröberen Blöcken zu verarbeiten, lässt sich dem subjektiv etwas entgegensetzen. Wer aktiv neue Eindrücke sammelt und Beziehungen pflegt, kann die gefühlte Dichte der Zeit erhöhen – selbst wenn die Uhr im Hintergrund unbeeindruckt weitertickt.
Zeit rennt nicht schneller – aber unser Gehirn blättert größere Seiten um
Die neue Studie rund um den Hitchcock-Clip legt nahe, dass unser Zeitempfinden mit dem Alter nicht deshalb „beschleunigt“, weil die Zeit objektiv anders verläuft, sondern weil das Gehirn weniger feine Unterteilungen in derselben Dauer vornimmt und unser inneres Maßband sich relativ verschiebt.
Weniger neuronale Zustandswechsel, unschärfere Grenzziehungen zwischen Ereignissen und eine logarithmische Lebensperspektive lassen Jahre im Rückblick wie kompakte Kapitel erscheinen, statt wie detailreiche, langsam vergehende Tagebücher.
Der tröstliche Aspekt: Ganz ausgeliefert sind wir diesem Effekt nicht. Wer neugierig bleibt, Neues wagt und Beziehungen pflegt, kann dem eigenen Leben mehr markante Momente hinzufügen – und damit der subjektiven Beschleunigung der Zeit ein Stück weit die Schärfe nehmen.