Forscher haben einen vollständig künstlichen Stoffwechselweg entwickelt, der aus CO₂-basierter Chemie direkt nützliche Moleküle erzeugt – effizienter, als es die Natur bislang vormacht. Der „Reductive Formate Pathway“ (ReForm) könnte zu einem Baustein für CO₂‑Recycling, grüne Chemie und künftige Bioproduktion werden.
Künstlicher Stoffwechsel statt lebender Zelle
Ein Team der Northwestern University und der Stanford University hat ein komplett synthetisches, zellfreies Stoffwechselsystem konstruiert. Anders als natürliche Stoffwechselwege läuft ReForm nicht in einer Zelle ab, sondern in einer kontrollierten Reaktionslösung, die aus maßgeschneiderten Enzymen besteht.
Kernidee:
- Aus Formiat – einer einfachen Flüssigkeit, die sich relativ leicht aus abgeschiedenem CO₂ herstellen lässt – wird direkt Acetyl‑CoA erzeugt.
- Acetyl‑CoA ist ein universeller Schlüsselmetabolit aller bekannten Lebewesen und Ausgangspunkt für unzählige Biosynthesen, von Fettsäuren bis hin zu komplexen Chemikalien.
Als Machbarkeitsbeweis wandelte das Team das erzeugte Acetyl‑CoA anschließend in Malat um – eine Substanz, die in der Lebensmittelindustrie, Kosmetik und in der Produktion biologisch abbaubarer Kunststoffe eingesetzt wird.
ReForm: Ein Stoffwechselweg, den es in der Natur nicht gibt
Der neue Pfad, Reductive Formate Pathway (ReForm) genannt, existiert in der Natur nicht. Statt einen existierenden Stoffwechsel zu „tunen“, haben die Forscher von Grund auf einen neuen Weg entworfen, der Reaktionen kombiniert, die in keiner bekannten Zelle in dieser Form vorkommen.
Die wichtigsten Eckdaten:
- ReForm besteht aus sechs Reaktionsschritten, die von fünf speziell entwickelten Enzymen katalysiert werden.
- Alle Kernreaktionen gelten als „new-to-nature“, also biochemische Schritte, die so in der Evolution nicht entstanden sind.
- Das System arbeitet komplett zellfrei, was viele biologische Zwänge umgeht: keine Konkurrenz mit anderen Stoffwechselwegen, keine Rücksicht auf Zellwachstum oder Toxizität.
Dadurch lassen sich Reaktionsbedingungen, Enzymkonzentrationen und Cofaktoren sehr präzise einstellen – deutlich genauer, als es in lebenden Organismen möglich wäre.
66 Enzyme getestet, 3.000 Varianten optimiert
Bevor ReForm funktionierte, stand eine enorme Design‑ und Testphase.
Die Forschenden gingen dabei so vor:
- Zunächst entwarfen sie einen hypothetischen Sechs‑Stufen‑Pfad, der Formiat über Zwischenstufen wie Formyl‑CoA, Formaldehyd und Glykolaldehyd zu Acetyl‑CoA führen sollte.
- Dann suchten sie in Bakterien und anderen Organismen nach Enzymkandidaten, die sich für diese neuen Aufgaben „umprogrammieren“ lassen.
- Insgesamt wurden 66 verschiedene Enzyme und 3.173 gezielt veränderte Enzymvarianten getestet.
Möglich wurde dieser schnelle Durchlauf durch zellfreie synthetische Biologie: Statt vollständige Organismen zu nutzen, extrahierten die Forschenden die biochemische „Maschinerie“ und arbeiteten direkt in der Reaktionslösung. Auf diese Weise ließen sich wöchentlich hunderte bis tausende Varianten überprüfen, was die Entwicklungszeit drastisch verkürzte.
Effizienter als natürliche CO₂‑Wege
Ein entscheidender Vorteil von ReForm liegt in der Energieeffizienz.
Vergleichswerte pro gebildetem Molekül Acetyl‑CoA:
- ReForm benötigt 4 ATP und 2 NADH‑Äquivalente.
- Der pflanzliche Calvin‑Zyklus verbraucht etwa 7 ATP und 4 NAD(P)H.
- Andere synthetische In‑vitro‑Pfadkonzepte kommen auf ähnlich hohe oder höhere Energieanforderungen.
Damit bietet ReForm bei gleicher Zielchemie potenziell einen geringeren Energie‑Footprint – ein wichtiger Punkt, wenn es um skalierbare CO₂‑Verwertung geht.
Mehr als nur Formiat: Formaldehyd und Methanol inklusive
ReForm ist nicht auf Formiat beschränkt. Die Architektur erlaubt es, weitere Ein‑Kohlenstoff‑Quellen (C1‑Substrate) einzuspeisen:
- Formaldehyd
- Methanol
Für diese Stoffe müssen lediglich bestimmte Eingangsschritte angepasst oder weggelassen werden; die Kernkaskade, die zu Acetyl‑CoA führt, bleibt identisch.
Das macht das System flexibel für unterschiedliche CO₂‑basierte Feedstocks – etwa aus Elektrolyseanlagen, Industrieabgasen oder Biogas‑Aufbereitung.
Warum das alles außerhalb von Zellen passiert
Die Entscheidung, ReForm außerhalb lebender Zellen zu betreiben, ist zentral.
Vorteile des zellfreien Ansatzes:
- Keine Konkurrenz mit natürlichem Stoffwechsel um Energie, Cofaktoren oder Zwischenprodukte.
- Keine toxischen Nebenwirkungen für Zellen, wenn ungewöhnliche Intermediate auftreten.
- Volle Kontrolle über pH‑Wert, Temperatur, Cofaktoren, Enzymverhältnis und Substratkonzentration.
So lassen sich Reaktionswege erproben, die eine lebende Zelle vermutlich gar nicht „tolerieren“ würde – und dennoch industrielle Relevanz haben könnten.
Von CO₂‑Problem zu Rohstoff: potenzielle Anwendungen
ReForm zielt auf ein zentrales Problem der Klimapolitik: den Umgang mit abgeschiedenem CO₂. Entsteht aus CO₂ nur ein Abfallstrom, bleibt der wirtschaftliche Anreiz gering. Wird CO₂ dagegen zum Ausgangspunkt für wertvolle Produkte, verbinden sich Klimanutzen und Geschäftsmodell.
Mögliche Perspektiven, die die Forschenden skizzieren:
- Nachhaltige Chemikalien: Malat demonstriert, dass sich CO₂‑basierte C1‑Stoffe in kommerziell relevante Plattformchemikalien überführen lassen.
- Kohlenstoffneutrale oder ‑negative Treibstoffe: Acetyl‑CoA ist Ausgangspunkt für viele Synthesewege zu Alkoholen und anderen Energieträgern.
- Biopolymere und Spezialchemie: Über Acetyl‑CoA können Fettsäuren, Polymere oder pharmazeutische Vorstufen adressiert werden.
Langfristig könnte eine ganze Klasse von „künstlichen Stoffwechseln“ entstehen, die gezielt für bestimmte Produktlinien optimiert werden – unabhängig von den Beschränkungen natürlicher Organismen.
Was der Schritt für die synthetische Biologie bedeutet
Die Arbeit an ReForm sendet gleich mehrere Signale in die Forschungsgemeinschaft:
- Stoffwechselwege müssen nicht länger nur variiert, sondern können komplett neu entworfen werden.
- Zellfreie Systeme eignen sich als Testumgebung, um radikale Designs schnell zu validieren und zu optimieren.
- Acetyl‑CoA fungiert als universeller Knotenpunkt, an den künftig diverse künstliche Pfade andocken könnten.
Wenn es gelingt, solche Systeme zu skalieren, könnten künstliche Stoffwechselketten zu einer eigenständigen Technologieklasse werden – vergleichbar mit heutigen Petrochemie‑Anlagen, aber auf Basis von CO₂‑Feedstocks und Biokatalyse